Zeitung für: Dreigliederung des sozialen Organismus | Geisteswissenschaft | Zeitgeschehen
Der Überlebende
Zum 100. Geburtstag von Primo Levi (*31. Juli 1919, Turin)
von Peter Selg
Weiterhin fließen zum Meer
Die verschiedensten Flüsse
Oder treten zerstörerisch über die Dämme,
Das alte Schutzwerk hartnäckiger Menschen.
Weiterhin bersten die Gletscher,
Schleifen den Grund glatt
Oder stürzen jäh hinab
Und verkürzen das Leben der Föhren.
Weiterhin kämpft sich das Meer durch,
Gefangen zwischen den Kontinenten,
Immer mehr geizend mit seinem Reichtum.
Weiterhin beschreiben ihren Lauf
Sonne, Sterne, Planeten und Kometen.
Auch die Erde wird die unwandelbaren
Gesetze der Schöpfung fürchten.
Wir nicht. Wir, aufrührerischer Zweig
Von großer Erfindungsgabe und geringem Verstand,
Wir zerstören, wir verderben
Mit immer größerer Eile.
Schnell, schnell, weiten wir doch die Wüste
In den Wäldern Amazoniens aus,
Im lebendigen Herzen unserer Städte,
In unseren eigenen Herzen.
Primo Levi
Das Gedicht „Almanach“ war das letzte, das Primo Levi schrieb, in großen Sorgen um die Zukunft der Menschheit auf Erden und um die Erde selbst, am 2. Januar 1986. Drei Monate später war er tot – und die Nachricht von seinem Selbstmord erschütterte unzählige Menschen in Europa und der Welt, die ihn und seine Bücher kannten.
Er, der Überlebende von Auschwitz-Birkenau, der wie kein anderer das Lager und sein System studiert, durchschaut und beschrieben hatte, „durchgearbeitet“, wie niemand sonst, er – gerade er – hatte nach all dem sich das Leben genommen, sich aufgegeben? Levis Bücher, aber auch die vielen Interviews, die er gegeben und die unzähligen Gespräche mit Schülern, die er geführt hatte, waren von seinem „Vertrauen in die Zukunft des Menschen“[1] erfüllt gewesen, von seiner tiefen Humanität und seinem Lebenswillen. „Auschwitz hat in mir Spuren hinterlassen, meinen Lebenswillen jedoch nicht gebrochen, sondern eher gesteigert – was ich erlebt habe, gab meinem Leben einen Sinn, nämlich Zeugnis abzulegen, damit derartiges nie wieder vorkommt“, so sagte er, und so war es ohne Zweifel auch.[2] „Durch das Erleben, Überdenken und Schildern jener Geschehnisse habe ich viele Dinge über die Menschen und die Welt gelernt“, so schrieb er in einer Erläuterung der Schulbuch-Ausgabe seiner Schrift „Ist das ein Mensch?“[3] Er war in Auschwitz durch tiefe Erlebnisse hindurchgegangen, „erwachsen“[4] und später zu einem „Zeugen“ des Lagers und seines Systems geworden, der es bedingenden und unterhaltenden Kräfte. Er war nicht der Einzige, aber einer der wirkmächtigsten Zeugen – mit seinen luziden Schriften, die von der Erinnerung handelten, aber keineswegs nur von ihr. Primo Levi, dieser bescheidene und zurückgezogen lebende Mensch, setzte lebenslang auf das Licht der Aufklärung, gerade auch im Umgang mit den abgründigen Phänomen des Bösen, die er wie wenig andere Betroffene zu analysieren verstand. Die menschliche „Vernunft“, die für ihn keine kalte Rationalität, sondern ein Organ der Wahrheitserkenntnis war, erachtete er als „heilsam“ – und die Wissenschaft war ihm, dem studierten und praktizierenden Doktor der Chemie, eine „Schule des Denkens und somit des Schreibens“[5]. Primo Levi baute auf das sich entwickelnde Bewusstsein des Menschen in einem „Jahrhundert der Unsicherheit“, auf Klarheit, Licht und Ordnung durch Erkenntnis. So lebte er und so schrieb er lange Zeit – und in einer Zeitschriftendebatte zu den „Pflichten eines Schriftstellers“ formulierte er 1977 mit Humor und in Form alttestamentarischer Gebote:
Du sollst in klaren und deutlichen Worten schreiben.
Du sollst Schnörkel und Überfrachtungen vermeiden.
Du sollst von jedem verwendeten Wort sagen können, warum du dieses und nicht ein anderes verwendet hast.
Du sollst jene ehren, die den gleichen Weg befolgt haben und es ihnen gleichtun.[6]
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[1] In: Primo Levi. Gespräche und Interviews. Hg. von Marco Belpoliti. München und Wien 1999, S. 93. [2] Zit. n. Myriam Anissimov: Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie. Berlin 1999, S. 23f. [3] In: Primo Levi. Gespräche und Interviews, S. 222. [4] Ebd., S. 240. [5] Ebd., S. 98. [6] In: Myriam Anissimov: Primo Levi, S. 362f.
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